Sibirien, 1994. Wenige Jahren zuvor war das kommunistische Regime zusammengebrochen. Zurück geblieben waren die abgrundtiefe Enttäuschung von Millionen Menschen, die ganz auf eine Zukunft hin gelebt hatten, die nie kam, und die Orientierungslosigkeit eines riesigen Landes, das vor der restlichen Welt seine Identität verlo- ren hatte. In den Straßen von Novosibirsk begegnete man den Trümmern einer Menschheit, die nicht mehr wusste, wer sie war; Männern und Frauen, denen man jahrzehnte- lang die Zugehörigkeit zu etwas Größerem als sie selbst geraubt hatte. Den minus 20° C, die man draußen spürte, entsprach der Frost in den Herzen und den Blicken der Menschen, die höchstens auf eine weit entfernte Zukunft hoffen konnten. Die Priester der Bruderschaft waren drei Jahre vorher hier angekommen. Die Regale in den Supermärkten waren damals gähnend leer. In Novosibirsk gab es nicht einmal eine katholische Kirche. Warum wur- den die Priester der Bruderschaft damals dorthin geschickt? Bei einem Besuch in Sibirien antwortete ihr Gründer, Don Massimo Camisasca, auf diese Frage einmal so: „Die Leute, denen ihr auf der Straße begegnet, wissen nicht mehr, zu wem sie gehören. Gefühlsmäßig gehören sie zu niemand mehr. Eure Aufgabe hier besteht darin, in ihnen die Sehnsucht nach einem ‚Haus‘ zu wecken.“
Genau das ist also unser Auftrag: Tag für Tag die Erfahrung eines ‚Hauses‘ zu leben. Was bedeutet das? Für uns ist ein ‚Haus’ ein Ort, der unsere Berufung hütet und pflegt, wo wir immer wieder angenommen sind und Vergebung erfahren, sodass vielleicht auch in anderen Menschen eine Sehnsucht nach solch einem Ort entstehen kann. Ein ‚Haus‘ erinnert mich daran, wer ich bin und wo ich denjenigen begegnen kann, zu denen ich gehöre. „Sich zu Hause fühlen“ bedeutet in diesem Sinn, sich ganz frei zu fühlen, sich wohl zu fühlen. Unser Auftrag drückt sich daher an einem ganz bestimmten Ort aus, eben in einem ‚Haus‘.
Aus diesem Grund ist die Familie so wichtig. Sie ist der erste Ort, an dem sich jeder von uns „zu Hause“ gefühlt hat, angenommen und geliebt. In einem Wort: frei. Die Familie ist ein ‚Haus‘ mit einem Vater. Er erinnert die Kinder an ihren eigenen Ursprung, zeigt Wege auf, spornt an, korrigiert und verzeiht, begleitet die Kinder mit klaren Regeln, mit Rat und Tat. Die Familie ist ein ‚Haus‘ mit einer Mutter. Sie nimmt die Kinder tagtäglich neu an, begleitet sie mit ihrer Liebe und tröstet sie. Die Familie ist ein Ort, wo wir uns als Kinder entdecken, die sich auf ihre Geschwister hin öffnen können.
Nie haben wir in den Ländern, in die wir gesandt sind, so wenig grundlegende Unterschiede gesehen wie heute zwischen Sibirien und den USA, zwischen Chile und Westeuropa. Was eine Familie eigentlich ist, wird immer ungewisser. Ebenso, das Freiheit einerseits und die Zugehörigkeit zu einem ganz bestimmten Ort andererseits sich bedingen und ganz wesentlich zusammen gehören.
Wenn wir den „Engel des Herrn“ beten, erinnern wir uns daran, dass Jesus Christus, das Wort Gottes, „sein Zelt unter uns aufgeschlagen hat“. Mir gefällt dieses Bild von Gott, der, wie einer von uns, ein ‚Haus‘ sucht, es nach einer langen Suche schließlich findet und dort einzieht. Das meint Weihnachten. Gott, der unter unser ein ‚Haus‘ bezieht, um in uns die Frage der ersten beiden Jünger zu wecken, die Jesus begegnet sind: „Wo wohnst du?“ Weihnachten ist Jesus Christus, der von neuem geboren wird, um in uns die Sehnsucht nach einem ‚Heim‘ zu wekken, wo wir Sinn und Schönheit der Wirklichkeit entdekken können. Ein wenig wie damals als Kinder, als wir von unserem besten Freund nach Hause eingeladen wurden. Jesus öffnet uns hier und jetzt die Türen seines Hauses als Verheißung einer unendlich viel schöneren und dauerhafteren Bleibe. Weihnachten ist Jesus Christus, der kommt, um in der Welt zu wohnen, um in uns die Sehnsucht nach einem Vater zu wecken, als dessen Kinder wir uns ganz frei wissen dürfen.