An das Bett eines kranken oder sterbenden Menschen gerufen zu werden oder im Haus eines Verstorbenen zu beten, umgeben von den Angehörigen, gehört von jeher zur Aufgabe eines Priesters. In Lateinamerika, wo ich fast 20 Jahre gelebt habe, war das häufig der Fall.
Im vergangenen Jahr jedoch, als ich in einer Pfarrei in den Marken eingesetzt war, konnte ich viele ältere Menschen zu Hause besuchen, häufiger und regelmäßiger, als das sonst möglich ist. Jeden Monat habe ich etwa 70 Menschen im Alter zwischen 80 und 100 Jahren besucht, die die unterschiedlichsten physischen und psychischen Probleme hatten. Ich hörte ihnen zu und spendete ihnen die Sakramente. Aus diesen Begegnungen habe ich viel gelernt.
Wenn ich in das Haus eines älteren Menschen gehe, nehme ich weder mein Handy mit, noch schaue ich auf die Uhr. Damit signalisiere ich dem Menschen sofort: Ich bin jetzt nur für dich da. Den Zeitdruck und die Schnelllebigkeit der Welt lasse ich vor der Tür. Und nicht nur das. Ich trete in eine andere Dimension der Zeit ein, wie sie in den Wohnstätten älterer Menschen herrscht. Die Zeit der tausendfach am Tag wiederholten Stoßgebete, der langsamen Gebetsrhythmen, der Stunden, die strukturiert sind durch die Rosenkränze und Gottesdienste, die auf den verschiedenen Fernsehkanälen übertragen werden.
Die Zeit der alten Menschen und ihrer Häuser ist natürlich auch die Zeit der Erinnerung. Ihre Zimmer sind fast immer voller Fotos. Normalerweise schaue ich sie mir an und spreche mit ihnen und den Angehörigen darüber.
Das Leben ist ein Geheimnis, das es zu entdecken gilt
Alberto war über 100 Jahre alt. Ich sage „war“, denn inzwischen ist er verstorben. Vor seinem Tod habe ich ihn einige Male besucht. Er war ein sehr ernster Mensch. Er hatte viel gearbeitet und war im Krieg gewesen. Einmal machte ich, am Ende der Beichte, aufgrund meiner Leidenschaft für Geschichte den „Fehler“, ihn zu bitten, mir ein paar Episoden aus dem Zweiten Weltkrieg zu erzählen. Daraufhin berichtete er mit einer außerordentlichen Fülle an Details, welche Entbehrungen er erlebt hatte. Und ich blieb weitere zwei Stunden in seinem Zimmer!
Während ich ihm zuhörte, wurde mir klar, dass die Ereignisse, von denen er erzählte, wie durch einen unsichtbaren Faden verbunden waren, den der Vorsehung. Das machte mir erneut deutlich, dass auch mein Leben eine tiefe Einheit besitzt. Die Etappen unseres Lebens, die unvorhergesehenen Richtungsänderungen sind keine verstreuten Splitter einer sinnlosen Explosion, sondern Teil eines göttlichen Planes, der alles an sein Ziel führt. Das Leben ist kein Rätsel, das man fürchten müsste, sondern ein Geheimnis, das es zu entdecken gilt.
Viele der Häuser, die ich besucht habe, waren Mehrgenerationenhäuser, in denen Eltern, Kinder und Enkel lebten. Wenn man sie besucht, sieht man einen interessanten Querschnitt der Generationen. Zuweilen bemerkt man die unvermeidlichen Spannungen. Oft wird die große Kluft zwischen dem starken Glauben der Eltern und der Gleichgültigkeit ihrer Kinder und Enkel deutlich.
Diese mehrstöckigen Häuser, in denen mehrere Generationen leben, waren für mich auch ein Ort, an dem ich heroische Opfer bewundern konnte: Söhne und Töchter, aber auch Schwiegertöchter, die seit Jahren ihre alten Eltern oder die ihrer Ehemänner pflegen.
Gelsomina ist über 90 Jahre alt. Inzwischen spricht sie nicht mehr, aber sie erkennt ihre Lieben noch. Sie kann keine feste Nahrung zu sich nehmen. Nicht einmal die Kommunion. Dreimal am Tag bereitet ihre Tochter liebevoll ein Gemüsepüree für sie zu und spritzt es in den Infusionsschlauch, damit die alte Dame weiterleben kann. Das macht sie schon seit etwa 20 Jahren. Seit 20 Jahren kümmert sie sich jeden Tag um sie, wäscht sie, pflegt sie.
Die Häuser, die ich besucht habe, sind vielfach Schauplatz eines tagtäglichen, stillen, geheimnisvollen Opfers, das die Welt trägt, aber in der heutigen Mentalität nichts zählt. Niemand spricht darüber und niemand lobt es. Nur Gott sieht es und erkennt es an. Denn durch diese Schwäche offenbart sich etwas von der Macht Gottes, der sich selbst geopfert hat, um uns zu erlösen. Dadurch wird auch der Sinn meines Priestertums klarer und vertieft sich. Ich bin nur derjenige, der die Macht Christi in die Häuser bringt, die Macht dessen, der alles rettet und alles vergibt.