Bewundernswerte Treue

Eine unerwartete Begegnung macht deutlich, dass Treue und Keuschheit Dimensionen der Liebe sind.

Costa Small
Paolo Costa (2. von rechts) und Simone Valentini beim Singen mit der Gemeinschaft von Comunione e Liberazione in Taiwan.

Vor einiger Zeit traf ich vor der Messe in St. Paul, einer unserer beiden Pfarreien in Taipeh, eine Frau aus unserer Gemeinde, die ich schon länger nicht mehr gesehen hatte. Sie hatte mich mehrfach eingeladen, aber ich hatte es nie geschafft, sie zu besuchen. Gleich nachdem wir uns begrüßt hatten, erinnerte sie mich daran, dass ich ihr ein Mittagessen schuldig sei. Und so beschlossen wir, gleich nach der Messe zusammen essen zu gehen. 

Die Dame heißt Immacolata, ist 94 Jahre alt und wohnt in der Straße, in der sich auch die Kirche befindet. Sie hat zwei Kinder, die nicht weit weg wohnen. Beim Essen erzählte sie mir ihr Leben. 

„Ich habe sehr jung geheiratet und bin mit meinem Mann und einem kleinen Sohn nach Taipeh gekommen.“ Immacolata stammt ursprünglich aus Hunan, einer chinesischen Provinz auf dem Festland. Wie viele andere ist sie während des Bürgerkriegs geflohen. „In Taiwan bekam ich einen weiteren Sohn und eine Tochter“, erzählt sie weiter. Als Mädchen habe man ihr, so erklärt sie, immer gesagt, sie sei nicht schön. Und auch ihr Mann habe sie nicht attraktiv gefunden. „Als ich 18 war, brachte mein Mann einen Kollegen vom Militär mit nach Hause, mit dem er Basketball spielte, einen sehr großen und gutaussehenden jungen Mann. Ich erinnere mich, dass er mir Komplimente machte. Aber ich war ja schon verheiratet und sagte ihm: ‚Betrachte mich als große Schwester, heirate du auch und hab Kinder.‘ Als er später heiratete, lud er uns nicht ein, aber er schickte uns ein Foto von der Hochzeit.“ 

Einige Zeit später kam der junge Soldat zu Immacolata nach Hause. Es war um die Mittagszeit, ihr Mann war bei der Arbeit und sie war allein. „Ich trug ein schönes Kleid im westlichen Stil, ein Geschenk der Amerikaner. Ich war immer klein und dünn und dieses Kleid stand mir gut. Aus Höflichkeit kochte ich ihm, da es gerade Essenszeit war, Nudeln in Brühe und zwei Eier. Sie müssen wissen, Pater, dass mich niemals jemand für schön gehalten hatte. Dieser junge Mann schien sich für mich zu interessieren, und auch ich fühlte mich zu ihm hingezogen. Da ich jedoch wusste, dass er ebenfalls verheiratet war, beschloss ich sofort, ihn nie wieder zu treffen. Ich begleitete ihn zur Tür und folgte ihm mit den Augen, während er über eine Brücke wegging.“ Auch er, so schildert es Immacolata, drehte sich mehrmals um und sah sie an. In diesem Moment wurde ihr klar, dass sie ihn immer lieben würde, auch wenn sie nie mit ihm zusammenleben könnte. 

Ihre Antwort überraschte mich: “Liebe ist Hingabe, nicht Besitz”

Als sie mir dies alles erzählte, hatte ich das Gefühl, Szenen aus einem Film des großen Regisseurs Zhang Yimou zu sehen. Als ihr Mann starb, war Immacolata erst 55 Jahre alt. Jener Mann kontaktierte sie und wollte sich mit ihr treffen. Sie willigte ein. Inzwischen waren sie beide nicht mehr jung. Er erzählte ihr, er habe drei Töchter, und begann, sich über seine Frau zu beklagen. „Ich gab ihm zum ersten Mal die Hand“, erinnert sich Immacolata, „und spürte seine Haut voller Schwielen.“ Sie empfand Zärtlichkeit für diesen alternden Mann. Aber als er ihr sagte, er wolle ein Hotelzimmer nehmen, um „diese Dinge“ zu machen, stoppte sie ihn mit den überraschenden Worten: „Liebe ist Opfer, nicht Besitz“. Ebenso unerwartet war seine Antwort: „Jetzt bewundere ich dich noch mehr als vorher.“

Am Ende der Geschichte weist mich Immacolata darauf hin, dass ihr chinesischer Name ein Schriftzeichen enthält, das „treu“ bedeutet. Und es ist ihr wichtig zu betonen, dass sie das wirklich war. Durch die Erfahrungen dieser 94-jährigen Frau konnte ich wieder feststellen, wie wahr die Worte sind, die Luigi Giussani, der Gründer unserer Gemeinschaft, uns so oft gesagt hat und auf die ich mein Leben gegründet hatte. 

Nach dem Essen gingen wir gemeinsam zu ihrer Wohnung. Als ich mich an der Tür von ihr verabschiedete, bedankte sie sich. Ich bedankte mich ebenfalls bei ihr, und ich meinte es ernst: Ich hätte nie gedacht, dass ich eine so schöne und bewegende Geschichte hören würde. Und ich versprach ihr, wir würden uns wiedersehen. Am Schluss sagte sie mir: „Es gibt zwei wichtige Dinge im Leben: yuanfen und mingyun.“ Diese Ausdrücke kann man beide mit „Bestimmung“ übersetzen. Wenn ein Mensch einen anderen trifft, an den er oder sie gebunden bleibt, dann spricht man von yuanfen. So als hätte diese Begegnung bereits festgestanden, vom Schicksal vorgesehen. Deshalb denke ich, wir könnten dieses Wort auch mit „Vorsehung“ übersetzen. Denn unser Leben wird nicht vom Zufall geleitet, sondern es gibt einen Vater, der uns liebt und uns begleitet auf dem Weg zu einer guten Bestimmung.

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